Samir Amin – Prominenter Dependenztheoretiker verstorben

Samir Amin – Prominenter Dependenztheoretiker verstorben
Robert Kappel, 13.8.2018

Samir Amin ist am 12.8.2018 verstorben (geb. am 3. September 1931 in Kairo). Er kritisierte als linker Ökonom den Neokolonialismus und die negativen Folgen der Globalisierung. Amin gehörte zeitweilig der Kommunistischen Partei Frankreichs an, distanzierte sich jedoch später vom sowjetischen System und stand eine Zeit lang maoistischen Ideen nahe.  1957 schloss er seine Dissertation über die Ursachen der Unterentwicklung ab. Er unterstützte in den 1970ern den Kurs Mao Tse Tungs und in einem Buch anfangs die Roten Khmer in Kambodscha wegen ihrer raschen De-Urbanisierung und ihrer ökonomischen Autarkie als mögliches Vorbild für Afrika. Später revidierte er die Ansicht und sah die Khmer-Herrschaft als eine Mischung aus  Stalinismus und Bauernrevolte. Zu seinen wichtigsten Werken gehören „Le développement inégal. Essai sur les formations sociales du capitalisme périphérique (1973) und „La déconnexion. Pour sortir du système mondial“ (1986).

1963 wurde er Fellow am Institut Africain de Développement Économique et de Planification (IDEP) in Dakar. Er arbeitete dort bis 1970 und war zugleich Professor an Universitäten in Poitiers, Dakar und Paris VIII, Vincennes. 1970 wurde er Direktor des IDEP, das er bis 1980 leitete, und 1980 Direktor des Third World Forum in Dakar.

Amin vertrat als Marxist und Altermondialist den Ansatz einer autozentrierten Entwicklung. Sein Denken ist in den Diskurs zur Dekolonisierung und Befreiungstheorie einzuordnen. Zu diesen gehören außer Amin vor allem Jean-Paul Sartre, Frantz Fanon, Amilcar Cabral, Walter Rodney und auch Claude Meillassoux. In der Phase der Dekolonisation übernehmen die vom Kolonialsystem eingesetzten lokalen Eliten die Macht und etablieren sich als die neue Staatselite: „Es ist der Kolonialismus, der den Patriotismus der Kolonisierten hervorbringt“ (Sartre 1968: 27). Im Kolonialverhältnis zwischen Weiß und Schwarz (Europa und Afrika) gilt Herrschaft und Knechtschaft.

Laut Amin steht am Ende des Kolonialismus nicht eine stabile Demokratie, auf die viele Afrikaner am Ende der Kolonialherrschaft gehofft hatten, sondern die Herrschaft einer Staatsklasse[1], die – von wenigen Ausnahmen abgesehen – in enger Verbindung zum ehemaligen „Mutterland“ steht.

Samir Amins Modell der abhängigen Reproduktion beschreibt die strukturelle Gewalt und Abhängigkeit Afrikas von der Kolonialzeit bis zum unabhängigen Afrika (Amin 1973; 1974, 1986). Er geht davon aus, dass Afrikas Unterentwicklung Ausdruck eines langen Prozesses der abhängigen Reproduktion ist. Vorkoloniale Gesellschaften wurden umgewandelt, koloniale Grenzen gezogen, europäische Sprachen zu Verkehrssprachen gemacht. Zugleich wurde der afrikanische Kontinent balkanisiert. Der europäische Imperialismus hatte mit brutaler Macht den Kontinent durcheinandergeschüttelt, die afrikanischen Völker unterworfen, ihre Produktionsweisen zerstört und ihre gewachsenen Strukturen zerschlagen. Obwohl die Macht der Kolonialherrschaft nicht bis ins letzte Dorf reichte, wurde Afrika mehr oder weniger stark – je nach Region und vorhandenen Rohstoffen – auf die Bedürfnisse europäischer Interessen ausgerichtet.

Grafik 1: Koloniale Abhängigkeiten nach Samir Amin

KolonAnknüpfend an diese Analyse der kolonialen Produktions- und Reproduktionsweisen (vgl. auch Meillassoux 1971) hat Amin für die neokoloniale Phase Ausführungen gemacht, die als Ansatz für Kooperation bzw. Abkopplungsideen herangezogen wurden:

Die Krise der Wirtschaftsbeziehungen Afrikas zeigt sich nach Amin insbesondere an der einseitigen Aus- und Einfuhrstruktur, die das typische afrikanische Spezialisierungsmodell aufweist: Unter dem Druck des Zentrums bildet sich ein Exportsektor heraus, indem der Arbeitslohn sehr niedrig ist (wenn auch höher als im Subsistenzbereich). Die Nachfrage, das Binnenmarktpotential ist begrenzt, und deshalb wird von lokalen und ausländischen Unternehmen nur wenig investiert. Um den niedrigen Lohn im Exportsektor absichern zu können, werden lokale, parasitäre Gesellschaftsschichten als „Transmissionsriemen“ eingesetzt.

„Latifundienbesitzer hier, Kulaken dort, handeltreibende Kompradorenbourgeosie, Staatsbürokratie usw. So kommt es, dass der innere Markt in erster Linie auf der ‚Luxus’nachfrage dieser Gesellschaftsschichten beruht“ (Amin 1974: 78).

Systematisch wird die Entwicklung der Produktion für Massengüter mangels Nachfrage vernachlässigt, während Luxusgüter importiert werden (siehe Grafik 2). Eine Verzerrung der Ökonomie mit wenigen Wachstumszentren und der Marginalisierung der Massen entsteht.

Wie kann unter solchen Bedingungen Entwicklung möglich sein? Amin sieht diese in der „autozentrierten Entwicklung“, d.h. Kontrolle des ausländischen Kapitals und „Self-Reliance“. Nur wenn ein gesellschaftliches Bewusstsein entstehe, ein „Sich-der-Realität-Bewusstwerden“ (Amin 1974: 94), kann sich eine Transformationsstrategie durchsetzen. Hingegen sei das Modell der peripheren abhängigen Akkumulation eine Sackgasse. Eine Umkehr der Prioritäten sei erforderlich. Nach Amin sind wesentliche Ziele: „Industrielle Auffächerung versus exportorientierte Monoproduktion, öffentliches Eigentum versus ausländisches Kapital“ (Amin 1974: 81). Solange die Wirtschaft der Peripherie vom Zentrum abhängig bleibe und die Staatsbürokratie sich Teile des Mehrprodukts aneignen könne, bleibe die Staatsbürokratie selbst abhängig.

Samir Amins Modell der abhängigen Reproduktion beinhaltet folgende Grundverbindung (siehe Grafik 3). In Afrika würden vor allem landwirtschaftliche, mineralische und fossile Rohstoffe produziert und exportiert und Investitionsgüter, Maschinen, Fertigwaren, Nahrungsmittel und Mineralöl eingeführt. Obwohl diese Grundverbindung sich verschoben hat (u.a. Nahrungsmittelimporte), sind die Grundlagen abhängiger Reproduktion weiter gegeben, wobei der Aspekt der Luxusgüterimporte zwar eine Rolle spielt, aber nicht die überragende, die Samir Amin annimmt.

Amin propagiert somit ein Modell der Abkopplung aus der Abhängigkeit vom kapitalistischen Weltmarkt.

Grafik 2: Grundverbindung abhängiger Reproduktion nach Samir Amin

Präsentation2
Quelle: Nach Amin 1974: 72.

Grafik 3: Spezialisierungsmuster im postkolonialen Afrika nach Samir Amin

Präsentation4

Folgende Konsequenzen lassen sich aus den Modellen von Amin und der Kritik an seinen Auffassungen ziehen:

  1. Das politische, kulturelle und ökonomische Abhängigkeits-Verhältnis hat sich in Afrika noch nicht überall aufgelöst. Afrika benötigt nach der langen Lernphase ein neues Bewusstsein der eigenen Stärke, die Kraft der abgeschüttelten Kolonisation, die sich nicht mehr durch die Pfadabhängigkeit sondern durch die neuen Optionen innerhalb Afrikas erzeugen lassen. Afrikas Schicksal ist nicht weiß, es ist schwarz (Mbembe 2013). Das ist der eigentlich Kern von „Self-Reliance“.
  2. Abkopplung ist keine Option, auch selektive Abkopplung nicht. Das Modell von Samir Amin offenbart insofern größere Schwächen. Die Ökonomien Afrikas sind mehr denn je in den Weltmarkt integriert, sie sind offene Ökonomien – und damit auch verwundbarer geworden. Sie sind auf sehr differenzierte und vielfältige Weise insbesondere mit Europa verkoppelt. Durch den Handel, die Direktinvestitionen und Kooperationsverträge mit den BRICS, insbesondere mit China und anderen emerging economies, ist diese asymmetrische Integration noch weiter verstärkt worden. Die große Nachfrage nach Rohstoffen aus den BRICS und die Importe von Konsumgütern aus bspw. China haben die Einbindung in die globalen Märkte eher noch vertieft, aber zugleich neue Optionen für afrikaniscche Länder geschaffen. D.h. durch eine flexible Außenhandels- und Investitionspolitik ließen sich einige der strukturellen Verzerrungen überwinden.
  3. In einem zentralen Punkt jedoch greifen die Analysen von Samir Amin. In einigen rohstoffabhängigen Staaten, wie Äquatorial-Guinea, Angola, Nigeria, DR Kongo, Niger, Kongo Brazzaville, Gabun, u.a. haben sich Staatsklassen, die von Amin als Kompradorenbourgeoisie bezeichnet werden, verbarrikadiert, um die Renten abzuschöpfen. Sie haben sich korrupte Netzwerke geschaffen. Die Institutionen, einschließlich der Verwaltung und der Zentralbank sind schwach, da sie durch die Staatsklassen gesteuert werden. In den Rohstoffländern sind Ungleichheit, der informelle Sektor und die Arbeitslosigkeit extrem groß. Unter diesen Bedingungen lässt sich laut Amin eine breitenwirksame Industrialisierung und die Erhöhung der Reallöhne nicht realisieren.
  4. Hingegen zeigen neuere Entwicklungen in anderen Ländern Afrikas ganz andere Trends. Die technologische Revolution, die Urbanisierung mit der Vergrößerung der Mittelschichten u.a. verweisen auf einen Wandel, der sich grundlegend von Amins Charakterisierung der post-kolonialen Abhängigkeiten unterscheidet. Zahlreiche afrikanischen Staaten nutzen die neuen Trends in den globalen Wertschöpfungsketten, der Entstehung größerer Binnenmärkte, bspw. auch durch verstärkte regionale Kooperation und des Aufstiegs von Mittelschichten, der Industrialisierung, der Agrarmodernisierung und der sinnvollen Verwendung von Einnahmen aus dem Verkauf von Rohstoffen für die Industrialisierung. Durch die Entwicklung der Infrastruktur, die in einem gesamtwirtschaftlichen Ansatz mit der Förderung der Klein- und Mittelunternehmen und der Schaffung von Voraussetzungen für die Integration in Wertschöpfungsketten und Industrialisierung werden die von Amin beschriebenen Verzerrungen gemildert und endogene Entwicklung ermöglicht. Auf den ersten Blick scheint dies sogar im Sinne Amins gewesen zu sein. Lokale Unternehmen, die in Clusters agieren und sich in globale und regionale Wertschöpfungsketten einbinden, sind in der Lage technologisches und ökonomisches Upgrading umzusetzen, tragen damit zur Diversifizierung der Ökonomien bei und helfen Entwicklungsblockaden zu überwinden.
  5. Den Prozess der endogenen Entwicklung konsequent zu verfolgen, ist eine Aufgabe der afrikanischen Regierungen. Staatseliten, die sich diesen Erfordernissen verweigern, werden abhängige Reproduktion und asymmetrische Strukturen verfestigen und damit immer wieder Hunger und Armut hervorrufen.

Dass die „herrschenden Klassen“ diese nicht überwinden, ist für Amin ausgemacht. Er plädiert dafür, dass die Arbeiterklasse unter der Leitung revolutionärer Parteien und ihrer Führer (wie bspw. Chavez, Morales, und früher Mao und Castro) mehr als die reine Nationalisierung von ausländischen Unternehmen und Verstaatlichungen vornehmen müssen, um auf dem Weg zum Welt-Sozialismus, voranzuschreiten. Dieser dürfe die Demokratie nicht unterminieren und müsse Bürokratie, die die Entscheidungsfreiheit einschränke, vermeiden.

In den letzten Jahrzehnten befasste er sich daher konsequenterweise und recht schwammig mit den Erfordernissen einer sozialistischen Weltrevolution. Sein marxistisches Credo lautete: „Wir befinden uns in einem entscheidenden Moment der Geschichte. Der Kapitalismus ist obsolet. Seine Fortsetzung kann nichts als Barbarei hervorbringen. Seine einzige Legitimität ist es, die Bedingungen seiner sozialistischen Überwindung geschaffen zu haben. Der Sozialismus ist keine verbesserte Form des Kapitalismus… sondern eine überlegene Entwicklungsstufe der Zivilisation. Das unumgängliche Ziel revolutionären Denkens und Handelns ist die Abschaffung jeder Art von Ausbeutung und der davon bedingten Unterdrückung und Entfremdung, also schliesslich auch der Aufhebung von Lohnarbeit und Tauschwert“ (https://kritisches-netzwerk.de/forum/samir-amin-das-europaeische-projekt-ist-abzulehnen).

Trotz aller notwendigen Kritik an seinem orthodoxen Ansatz, vor allem auch seiner wenig ergiebigen Arbeitswertlehre, ist es sein großes Verdienst, Entwicklungsblockaden der Peripherie verdeutlicht zu haben. Er leistete einen eminent wichtigen Beitrag zur Entwicklungstheorie, war ein herausragender Vertreter der Dependenztheorie und erklärte aus dieser Sicht die Zusammenhänge von ungleicher Einbindung von Entwicklungsländern in die globale Arbeitsteilung. Er war einer der großen radikalen Denker, ein kreativer Marxist mit großem Einfluss unter afrikanischen und lateinamerikanischen Intellektuellen. Er glaubte, dass die Oligopole der reichen Welt, die die globale Technologie, den Zugang zu den Rohstoffressourcen, die Finanzen, die globalen Medien und die Waffen beherrschten, die Möglichkeiten für den Fortschritt der gesamten Menschheit behindern. Notwendig sei daher eine anti-imperialistische Politik, die den Gegensatz von Zentrum und Peripherie überwinden würde. Ein Thema, das angesichts der globalen Ungleichheiten weiterhin von Bedeutung ist. „Samir Amin gehört zu den bedeutendsten und einflussreichsten Intellektuellen der Dritten Welt“, so Dieter Senghaas.

Literatur:

Amin, Samir (1972), Underdevelopment and Dependence in Black Africa, in The Journal of Modern African Studies 10, 4: 503-524.

Amin, Samir (1973), Le développement inégal. Essai sur les formations sociales du capitalisme périphérique, Paris 1973.

Amin, Samir (1974), Zur Theorie von Akkumulation und Entwicklung der gegenwärtigen Weltge­sellschaft, in Senghaas, Dieter (Hrsg.), Peripherer Kapitalismus. Analysen der Abhängigkeit und Unterentwicklung, Frankfurt/Main: 71-97.

Amin, Samir (1986), La déconnexion. Pour sortir du système mondial, Paris.

Kappel, Robert, Birte Pfeiffer und Helmut Reisen (2017) Compact with Africa: fostering private long-term investment in Africa, Bonn: DIE/GDI Discussion Paper 13/2017 https://www.die-gdi.de/uploads/media/DP_13.2017.pdf.

Mbembe, Achille (2013), Critique de la raison nègre, Paris.

Meillassoux, Claude (1975), Femmes, greniers et capitaux, Paris (dt. 1976: Die wilden Früchte der Frau. Über häusliche Produktion und kapitalistische Wirtschaft. Frankfurt/M.)

Sartre, Jean-Paul (1968), Kolonialismus und Neo-Kolonialismus. Sieben Essays, Reinbek.

Senghaas, Dieter (1982), Von Europa lernen, Frankfurt/Main.

Tetzlaff, Rainer (1977), Staat und Klasse in peripheren kapitalistischen Gesellschaften: die Entwicklung des abhängigen Staatskapitalismus in Afrika, in: Verfassung und Recht in Übersee 10: 43-77.

Siehe auch die folgenden Blogbeiträge

Kappel, Robert, Birte Pfeiffer und Helmut Reisen (2016), Wie Chinas Neuausrichtung Afrikas Wachstum beeinflussen wird http://www.oekonomenstimme.org/artikel/2016/05/wie-chinas-neuausrichtung-afrikas-wachstum-beeinflussen-wird/

Reisen, Helmut (2018), Paradigms lost, http://shiftingwealth.blogspot.com/2018/04/paradigm-lost.html

Fußnote

[1]    Der Begriff Staatsklasse ist wie viele andere unpräzise. Rainer Tetzlaff bspw. definiert Staatsklasse folgendermaßen: „Dabei handelt es sich um einen elitären Kreis von Personen, die Machtpositionen im Staat, staatlichen Wirtschaftsbetrieben und öffentlichen Einrichtungen innehaben,  – um Funktionsträger, die weniger durch fachliche Qualifikation bestechen als sich dem Parteiführer durch persönliche Loyalität und Corpsgeist empfehlen. Enthoben fast jeder institutionellen Kontrolle durch Parteibasis oder Parlament, tendierten sie bislang zur Instrumentalisierung des Staates und seiner Einnahmequellen zum eigenen (illegalen) Nutzen“ (Tetzlaff 1991: 29).

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