Das nächste Kapitel der Industriepolitik in China: Die Greater Bay Area-Initiative

Thomas Bonschab, 27.02.2019

So richtig von reinster Vanille wollte wohl niemand schwärmen, als Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier seine „Nationale Industriestrategie 2030“ vorstellte. Für die alte Schule der marktwirtschaftlich liberal ausgerichteten deutschen Ökonomenzunft ist staatliche Industriepolitik ohnehin schwer zu verkraften. Aber auch heute viele Ökonomen einer Industriepolitik weniger skeptisch gegenüberstehen, hatten sie doch schwer zu schlucken. Die neue Strategie sieht in einem Maße Schutz und Stärkung etablierter Großkonzerne — Deutsche Bank, Automobilkonzerne, Siemens – vor, die nach den Fehltritten der letzten Jahre kaum nachvollziehbar sind. Nicht nur der Mittelstand fühlt sich dabei übergangen.

Zugleich ist allen Seiten klar, dass der Bundeswirtschaftsminister seinen Finger in die Wunde legt. Die USA schotten ihre Märkte zunehmend ab, China verfolgt seit Jahren über die Strategie „Made in China 2025“ eine sowohl aggressive wie erfolgreiche Industriepolitik. Im Ergebnis gehen Deutschland und den europäischen Nachbarländern mit beängstigender Geschwindigkeit die Innovationskraft im globalen Wettbewerb verloren.

Das will Altmaier so nicht stehen lassen. Also: Ärmel hochkrempeln, nach dem Vorbild der Chinesen selbst Schlüsseltechnologien definieren und staatlich fördern, mit Hilfe von Unternehmensfusionen Marktmacht aufbauen und über Instrumente wie der Außenwirtschaftsverordnung die eigenen Technologieunternehmen vor Übernahmen schützen.

Auch wenn solche Schritte als „Nationale Industriestrategie“ die wenigsten überzeugen, sie kommen doch wie ein Befreiungsschlag. Es war das lang erhoffte Signal, dass man auf die Herausforderungen aus den USA und vor allem China mit einem entsprechenden Kraftakt reagieren will. Altmaier hat hierfür endlich ein Forum eröffnet. Und man kann nur hoffen, dass sich in den kommenden Wochen und Monaten nicht nur die üblichen Konzerne, Verbände und Vorfeldeinrichtungen der Ministerien an dieser dringend erforderlichen Diskussion beteiligen werden, sondern auch die industrielle Basis aus dem Mittelstand und die Wissenschaft.

Chinas Greater Bay Area

Wenn es um den Aufbau von Marktmacht geht, lohnt sich, wie so oft, ein Blick auf die aktuellen Reformprojekte in China. Dort werden derzeit sektorale, regionale und globale Strategien geschickter miteinander verbunden als im Rest der Welt. Chinas sektorale Ausrichtung über die Industriestrategie „Made in China 2025“ ist in Deutschland hinreichend bekannt und ist vermeintlich auch der Haupttreiber hinter dem Vorstoß aus dem Bundeswirtschaftsministerium. Auch Chinas globalen Ambitionen im Rahmen der „Belt and Road Initiative“ (BRI) werden (inzwischen) diskutiert. Eine Auseinandersetzung mit den entstehenden Städteclustern bzw regionalen Clustern findet allerdings nur am Rande statt. Dabei sind sie für Chinas Gesamtstrategie von zentraler Bedeutung.

Vor wenigen Tagen, am 18 Februar 2019, hat die chinesische Regierung einen gigantischen Entwicklungsplan für die „Guangdong-Hong Kong-Macao Greater Bay Area“ (im Folgenden: Greater Bay Area) bekannt gegeben. Die Vorbereitungen hierfür haben bereits vor vielen Jahren begonnen. Wer per Flugzeug regelmäßig über Hongkong den Zugang zum Perlflussdelta gesucht hat, konnte vor allem den Bau der mit 55 Km weltweit längsten Seebrücke zwischen Hong Kong und Macao verfolgen. Sie ist nur Teil eines umfassenderen Infrastrukturaufbaus, der die künftige „Great Bay Area“ ausmachen soll.

Bay Area1

Das Gebiet umfasst knapp 56.000 Quadratkilometer mit etwa 70 Millionen Einwohnern. Auch wenn es sich dabei nur um 5% der chinesischen Gesamtbevölkerung handelt, tragen sie schon heute 12% des Bruttoinlandsprodukts bei.

China hat in der Vergangenheit mehrere solcher Cluster aufgebaut, die wichtigsten davon sind der Jing jin Li Cluster, der die Metropolen Peking und Tianjin mit der Provinz Hebei vereint (120 Mio Einwohner) und das Yangtse River Delta, mit der Stadt Shanghai im Zentrum (130 Mio Einwohner). Jedes dieser Cluster ist ein globales Kraftpaket.

Mit der Greater Bay Area aber ist China noch ehrgeiziger. Der jüngst veröffentlichte Entwicklungsplan umfasst 11 Kapitel, in denen die räumliche Ausdehnung, ökologische Zielsetzungen, Maßnahmen zur Erhöhung der Lebensqualität und Strategien für die internationalen Technologiebeziehungen beschrieben werden. Spätestens 2035 soll die Region in der Spitze der Weltliga angekommen sein. Anders formuliert: auf dem Niveau der Tokyo Bay Area, der New York Bay Area und der San Francisco Bay Area. Und möglichst alle drei überholen, versteht sich.

Die Voraussetzungen für diesen ehrgeizigen Plan stehen nicht schlecht. Vieles wird davon abhängen, ob eine genuine Einbindung von Hong Kong gelingen wird, ob dessen Stärken im Offshore-Banking und im Finanzhandel insgesamt genutzt werden können. Erst dann können die Stärken der Metropolen Guangzhou (Dreh- und Angelpunkt für internationale Investitionen, Technologieentwicklung und Bildung), Shenzhen (globales Innovationszentrum) und Macao (Tourismus und Kultur) auf ein neues Niveau gehoben werden. In der zweiten Reihe stehen Städte wie Foshan und Dongguan, die von den spill-over Effekten profitieren sollen, gefolgt von Städten der dritten Reihe (Zhuhai, Huizhou etc), die über Infrastrukturprojekte neu erschlossen werden.

Leichter dürfte es werden, die Ziele im Aufbau der Infrastruktur zu erreichen. Brücken, U-Bahnen und Schnellzüge sollen den wirtschaftlichen und sozialen Austausch zwischen den Städten erleichtern. Der Ausbau von Flug- und Seehäfen hat bereits die internationale Anbindung erleichtert und den maritimen Handel befördert. Anders als in Deutschland ist es keine Frage, dass hinter jeder Milchkanne künftig ein 5G-Netz zu finden sein wird. Ansonsten sind die über „Made in China 2025“ vorgegebenen Ziele in den Bereichen Informationstechnologie, Künstliche Intelligenz, Robotik und Biomedizin nicht erreichbar.

Der wohl größte komparative Vorteil dürfte in der Vielfältigkeit des regionalen Clusters „Greater Bay Area“ liegen. Die Region bietet schon heute über seine knapp 300 Industriecluster eine beinahe lückenlose Zulieferkette zwischen vor- und nachgelagerten Technologien. Zudem ist ein Mangel an jungen, talentierten Arbeitskräften noch nicht absehbar. Eine dauerhafte staatliche Unterstützung mit Kapital und Reformen ist spätestens seit dem 18 Februar gewährleistet.

Vor diesem Hintergrund ist ein Vergleich mit den anderen Bay Areas in San Francisco, New York und Tokyo nicht vermessen:

comparison

*2016 data
Source: Guangdong Bureau of Statistics, National Bureau of Statistics of China, Hong Kong Census and Statistics Department, The Statistics and Census Service (Macao), Japan Ministry of Internal Affairs and Communications, World Bank, Deloitte Research, Hong Kong Legislative Council, United States Census Bureau, World Intellectual Property Organization, CBRE Research

Mit einer Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts von etwa 7% dürfte sich die Lücke zu den anderen Clustern in den kommenden Jahren weiter schließen – die HSBC geht von einer Verdoppelung des heutigen Stands bis 2025 aus. Da das künftige Wachstum in erster Linie über ein Upgrade der vorhandenen Technologiebasis laufen wird, muss auch von einem deutlichen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf ausgegangen werden. Offen bleibt allein, ob in absehbarer Zeit die vorhandene Lücke im Dienstleistungssektor zu den anderen Clustern geschlossen werden kann.

Fazit:

Das Beispiel der Greater Bay Area zeigt, mit welcher Wucht China seinen Hut in den globalen Wettbewerbsring wirft. Die auf Wirtschaftssektoren ausgerichtete Industriestrategie „Made in China 2025“ ist nur ein, wenn auch besonders wichtiger, Aspekt in dem Bestreben, zum bedeutendsten wirtschaftlichen Akteur zu werden.

Das hat auch Implikationen für die aktuelle Diskussion um die „Nationale Industriestrategie 2030“. Die von Altmaier angestoßene Debatte über angemessene wirtschaftspolitische Instrumente zur Unterstützung wichtiger Sektoren sollte aufgegriffen werden. Man kann nur hoffen, dass hier aus dem Ministerium noch Offenheit für alternative Ansätze besteht.

Wichtiger aber ist, dass eine solche sektoral ausgerichtete Debatte auch in Deutschland richtig eingeordnet wird. Wenn es um die Neuordnung der globalen Kräfteverhältnisse geht, beleuchtet sie einen Aspekt unter mehreren. Eigentlich wünschte  man sich einen großen Wurf, eine Kombination aus außenpolitischen Visionen, industriellen Neuentwicklungen und übergreifenden regionalen Strategien. Eine Kombination eben, wie sie China vorantreibt.

Schon wegen der europapolitischen Uneinigkeiten sind hier allerdings die Hände gebunden. Gleichwohl sollte die aktuelle Debatte um den richtigen Weg einer auf Wirtschaftssektoren ausgerichteten Industriepolitik mutiger mit den Instrumenten der Regionalpolitik verknüpft werden. Nur so können auch in Europa Cluster entstehen, die dauerhaft eine Augenhöhe zu den Großprojekten anderer Regionen herstellen.

6 Kommentare zu „Das nächste Kapitel der Industriepolitik in China: Die Greater Bay Area-Initiative

  1. Daas ist ein sehr guter Bericht. Wir Europäer müssen darauf achten, über chinesisches Handeln stets sehr gut informiert zu sein, denn China entwickelt sich rasant weiter wäührend Europa zzt stagniert.

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  2. Die ökonomische Entwicklung in der VR China ist meines Erachtens nicht angemessen zu verstehen, wenn man die Politik des Landes ausblendet: das (auch wissenschaftlich fundierte!) Programm eines „Sozialismus chinesischer Prägung“ sowie die soziale Struktur, politische Ausrichtung und am Volkswohl orientierte Verantwortung der Kommunistischen Partei. Davon sind der Bundeswirtschaftsminister und die Innovationskraft der deutschen Wirtschaft sehr weit entfernt. Statt China wie einen feindlichen Konkurrenten anzugehen, sollte eine eurasiatische Kopperation erwogen werden, mit der Russischen Föderation als Brücke.

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  3. Aber auch heute viele Ökonomen einer Industriepolitik weniger skeptisch gegenüberstehen, hatten sie doch schwer zu schlucken

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