Industriepolitik „Made in China“ – Ein eher unbekanntes Feld

Industriepolitik „Made in China“ – Ein eher unbekanntes Feld

Thomas Bonschab

Chinas Industriepolitik ist zwar in aller Munde, aber selten findet eine Auseinandersetzung mit den konkreten Instrumenten statt, mit denen das Land seine Industrie an die technologische Front befördern will. Damit werden Chancen in den Verhandlungen mit China vergeben.

Es ist beinahe gleichgültig, auf welche Schlüsseltechnologien man blickt: China hat stets sektorale Strategien vorzuweisen, aktualisiert diese regelmäßig und investiert erhebliche finanzielle und humane Ressourcen in deren konsequente Umsetzung. Die Folge ist, dass China in vielen Bereichen nicht nur technologisch gegenüber dem Westen aufgeholt hat, sondern inzwischen selbst an der Gestaltung globaler technischer Normen mitwirkt. Die Entwicklungen in den Bereichen Elektronische Antriebssysteme, Ultrahochspannungsleitungen, Hochgeschwindigkeitszüge, Informations- und Kommunikationstechnologie, Biotechnologie und Künstliche Intelligenz sind nur Beispiele dafür.

Trotz der zentralen Bedeutung dieser Dynamik für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen und sogar so fundamentaler Themen wie der Energieversorgung, werden die Innovationen aus China außerhalb von Expertenkreisen kaum diskutiert. Das mag verständlich sein, wenn es um technische Details geht. Zugleich wäre es schon wünschenswert, mehr darüber zu erfahren, was genau in China an der technologischen Front wirtschaftspolitisch gefördert und dann auch entwickelt wird.

Die öffentliche Wahrnehmung von China macht es sich insgesamt etwas zu bequem. Die Debatte in Deutschland ist in erster Linie geprägt von einer Auseinandersetzung zu den fundamentalen Wertedifferenzen mit dem politischen System und den vielen roten Linien, die man als Demokratie gegenüber China ziehen müsse. Aber selbst wenn der Blick auf die technologischen Entwicklungen gelegt wird, bleibt die Diskussion meist in Allgemeinplätzen. Die Analyse bewegt sich dann oft auf der Ebene, dass China eine Nationalisierung seiner Wertschöpfungsketten beabsichtige, die Entwicklung lokaler oder nationaler Technologien in den Vordergrund stelle und eine globale Technologieherrschaft anstrebe. Das mag alles richtig sein, aber die Erkenntnis ist zu abstrakt, um Wirtschaft und Politik zu einer ausgewogenen Positionierung gegenüber China zu verhelfen. Nach all den Jahren der Verschiebung von globalen Kräfteverhältnissen würde man sich doch mehr Aufmerksamkeit für Details wünschen.

Industriepolitik ist mehr als Ankündigungen von Zielsetzungen

So wichtig es ist zu wissen, was in China alles entwickelt wird, sollte man auch verstehen, wie China seine Industrien in den globalen technologischen Wettbewerb schickt. Die Bezeichnung „Industriepolitik“ weist zwar in die richtige Richtung. Aber es ist ein bloßes Schlagwort, wenn man es verwendet wie der ehemalige Wirtschaftsminister Peter Altmaier, der in Reaktion auf China eine „Nationale Industriestrategie 2030“ ausgerufen hatte. Die war schon am Tag der Verkündung genauso bedeutungslos wie etwa die von ihm initiierte „KI-Strategie“ oder die „Sprunginnovationen“. Nach der Verkündung kam die Ratlosigkeit, weil weder Politik noch Unternehmen oder Wissenschaft eine Vorstellung hatten, was nun passieren solle.

Die bloße Ankündigung einer Zielsetzung ist eben noch keine Industriepolitik. Sie kommt erst dann zustande, wenn der Staat eine konkrete Steuerungsaufgabe in der Marktwirtschaft übernimmt. Insofern ist auch in China Industriepolitik ein relativ neues Phänomen. Die großen wirtschaftlichen Erfolge des Landes in den vergangenen 40 Jahren sind wohl in erster Linie der Einführung von marktwirtschaftlichen Prinzipien und dem Abbau von klassischer sozialistischer Planwirtschaft zu verdanken. Erst Anfang der 2000er Jahre hat China ernsthaft mit industriepolitischen Instrumenten experimentiert und im Zuge der globalen Finanzkrise 2008 gleich mehrere Gänge zugelegt (vgl. Barry Naughton (2021)). Dann allerdings ging es recht schnell. In nur wenigen Jahren entstanden aus den staatlich initiierten „Megaprojects“ (seit 2006) systematische Investitionen in „Strategic Emerging Industries“ (seit 2009) und schließlich die „Innovation-Driven Development Strategy“ (seit 2015). Letztere ist die Benchmark, mit der man sich auseinandersetzen muss.

Chinas neue Instrumente: “Government Industrial Guidance Funds” und “Supply Chain Chiefs”

Chinas Industriepolitik ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, vielleicht sogar einmalig in der globalen Wirtschaftsgeschichte. Einige wesentliche Merkmale sind:

  1. Die Bereitschaft, erhebliche Mittel in Zukunftstechnologien zu investieren. Von zentraler Bedeutung für Chinas Industriepolitik sind die „Government Industrial Guidance Funds“ (im Folgenden: GIGF). Einige dieser Fonds sind halbwegs bekannt, wie der „Integrated Circuit Industry Investment Fund“(seit 2014: Chip design, Produktion, Verpackung), der „Central SOE Innovation Fund“ (seit 2016: Venture Capital für Staatsunternehmen) oder der „Government-Enterprise Cooperation Fund“ (seit 2019: für PPP Projekte, also öffentlich-private Partnerschaften). Die meisten dieser Fonds aber sind aber eher unbekannt. Beeindruckend ist die atemberaubende finanzielle Ausstattung dieser Fonds. Schätzungen zufolge sind seit 2014 knapp 1600 Milliarden Euro über diese Fonds zur Entwicklung überwiegend von Technologieprojekten abgeflossen (eine Übersicht kann man sich aus der Website www.petadat.cn zusammenstellen). Man kann die enorme Summe infrage stellen, weil auch in China das Missverhältnis zwischen Ankündigung und Umsetzung besteht, zugleich sind auf der einschlägigen Website viele Fonds auf Provinz- und Stadteben nicht aufgeführt, so dass die tatsächliche Summe noch höher liegen könnte. In jedem Fall bezeugen die „Government Industrial Guidance Funds“ aber eine Investitionsbereitschaft, die vollkommen andere Größenverhältnisse als in Deutschland haben.
  2. Die Ausrichtung an technologischen ‚Revolutionen‘. Spätestens mit Einrichtung der ersten GIGF wurde die Zielsetzung ausgegeben, die zur Verfügung gestellten Mittel nicht in erster Linie für einen Aufholprozess gegenüber westlichen Industriestaaten gedacht ist, sondern für die Förderung von Technologien,  die in China selbst und ohne westlichen Technologietransfer (sogenannte „indigener“ Technologien) entwickelt werden und die das Potenzial haben, im globalen Kontext neue technologische Normen und Standards zu setzen. Deutschland hat seinerseits den Anspruch erhoben, in der Normsetzung im Bereich Industrie 4.0 eine Führungsrolle zu übernehmen. Aber die Vehemenz, mit der China über die Sektoren wie Energieversorgung, Biotechnologie, Transport oder Digitales hinweg Normsetzungen betreibt, lässt einen anderen – innovativen – Willen erkennen.
  3. Die klare Führungsrolle der Regierung. Die Identifikation von Zukunftsthemen erfolgt in der Regeln durch die Regierung. Meist national, manchmal in den Provinzen. Anschließend wird eine Plattform aufgebaut und ein GIGF gegründet, der über große Staatsunternehmen und Staatsbanken finanziell ausgestattet wird. Wenn die Projekte definiert sind, soll das privatwirtschaftliche Kapital folgen und sich ebenfalls beteiligen. Die Umsetzung findet dann in den Provinzen auf lokaler Ebene statt. Der Prozess mag nicht immer so reibungslos funktionieren, wie die Regierung sich das vorstellt. Man kann sich allerdings die Irritation vorstellen, wenn die deutsche Bundesregierung auch nur auf den Gedanken käme, den deutschen DAX-Konzernen massive gemeinschaftliche Investitionen in einen Fonds zu tätigen, dessen Zielrichtung eine politische Vorgabe ist.
  4. Die Quasi-militärische Durchführung. Für die Umsetzung der von der Regierung definierten Innovationsziele wird das gesamte Spektrum an Politikinstrumenten eingesetzt. Wie sehr dieses an einer militärischen Prozessorganisation orientiert ist, machen die seit 2021 auf nationaler und lokaler Ebene eingesetzten „Supply Chain Chiefs“ klar. Es kann sein, dass dieser neue Posten ursprünglich dafür gedacht waren, eine wirtschaftliche Lösung für die immer größer werdenden globalen Lieferkettenunterbrechungen zu finden. Ihre Rolle ist heute jedoch sehr viel gewichtiger und wird in Deutschland kaum wahrgenommen. „Supply Chain Chiefs“ haben längst die Aufgabe übernommen, den technologischen Durchbrunch in den einzelnen Sektoren zu überwachen und zu fördern. Dafür werden in der chinesischen Politik beinahe alle bürokratischen Silos abgebaut. Die auserwählten „Chiefs“ können weitgehen auf Ressourcen von Ministerien, Provinzen, Staatsunternehmen, Universitäten und auch des Militärs zugreifen, um die gesetzten Ziele, etwa in der Raumfahrt, Elektromobilität, Mikrochips, Breitbandkommunikation oder der militärischen Navigationstechnologie umzusetzen. Besonders zentrale Projekte sind prominent aufgehängt. Berichten zufolge fördert der für Wirtschaftsangelegenheiten so wichtige Vize-Premier Liu He persönlich eine größere Unabhängigkeit von der westlich angeführten Halbleitertechnologie und arbeitet mit einem breitem Team an einer neuen Chip-Software und neuen Fotolitographie-Verfahren. Auch hier wieder zeigt sich, wie weit das von deutscher Realität entfernt ist.
  5. Die Beibehaltung des Marktprinzips, wenn auch neu interpretiert. Chinesische Industriepolitik unterscheidet sich wesentlich vom westlichen Marktverständnis, zumindest von dessen Theorie. Aber sie ist noch weiter entfernt von klassischer Planwirtschaft. Wie viel staatliche Risikoübernahmen bei den GIGF gewährleistet sind, lässt sich schwer sagen. Ist ein Fonds erst einmal eingerichtet, entstehen in dessen Umfeld meist eine Vielzahl von Firmen, die sich um die Mittel bewerben. Viele sind dabei nicht erfolgreich. Auch das Management der Fonds folgt prinzipiell marktwirtschaftlichen Prinzipien, denn die Aufgabe der Fonds ist es, mindestens kapitalerhaltend zu investieren. Fondsmanager haben also die Aufgabe, die assets des Fonds zu vermehren, einen positiven return on investment zu erwirtschaften und – eine weniger wirtschaftliche Komponente – mit den politischen Vorgaben des Fonds in Einklang zu stehen. Aus chinesischer Sicht sind hier zumindest genug Marktkomponenten enthalten, um die Kritik der Verletzung von WTO-Regeln zurückzuweisen.

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Chinas Industriepolitik dürfte wohl hervorbringen, dass das Land vom Westen gelernt hat, allen voran von den USA. Schon ein Blick auf die vorhandenen GIGF zeigt, wie sehr Professionalität im Vordergrund steht und Defizite behoben werden sollen. Anders als Deutschland stellt China etwa wirksame eigene Fonds für die verschiedenen Entwicklungsstufen von Unternehmen zur Verfügung: für die Start Up-Phase, für die frühe Produktentwicklung, für Mezzanine Finanzierung und für die Wachstumsphase.

Relevanz für Deutschland

Es ist nicht leicht zu beantworten, welche Bedeutung all das für Deutschland hat. Einige Aspekte sollte man allerdings im Auge behalten:

  • China hat seit 2006 schrittweise eine neue Generation von Industriepolitik geschaffen. Wuchtiger und bestimmter als wohl alles, was die Welt zumindest in Friedenszeiten bislang gesehen hat. Ob es sich dabei langfristig um ein Erfolgsmodell handelt, wird sich zeigen. Milde formuliert ist es riskant, wenn China über die GIGF auf spezifische Technologien wettet und dabei das volkswirtschaftliche Vermögen einsetzt, das über Jahrzehnten hinweg akkumuliert wurde. Ein Scheitern hätte erhebliche Folgen für die Weltwirtschaft.
  • Deutsche Unternehmen haben kein leichtes Spiel, sich mit Geschäften in die chinesische Dynamik einzubringen. Daran kann auch die immer liberaler werdende „Negativliste“, die Restriktionen für ausländische Unternehmen regelt, nichts ändern. Internationale Unternehmen dürfen in China inzwischen beinahe alles. Das hilft aber oft nicht viel, wenn sie auf die Macht der GIGF und der „Supply Chain Chiefs“ stoßen, die natürlich im Interesse Chinas und für chinesische Unternehmen agieren. Allerdings: So lange deutsche Unternehmen in vielen Bereichen noch über technologischen Vorsprung verfügen und für China einen Mehrwert darstellen, ist die Tür nicht zu. China würde ernsthaften Verhandlungen voraussichtlich nicht ausweichen. Voraussetzung ist aber, dass Politik und Unternehmen in Deutschland mit den aktuellen Prozessen in China vertraut sind, sich zusammenschließen und neben Kritik auch konstruktive Vorschläge einbringen. Unter den gegebenen Bedingungen ist das gegenwärtig vielleicht die beste Antwort, die man auf ‚Industriepolitik Made in China‘ geben kann.
  • Eine Nachahmung des chinesischen Modells ist für Deutschland nicht möglich, ein Weitermachen wie bislang aber auch nicht. Das deutsche Vorgehen von groß angekündigten Initiativen, die dann weitestgehend im Dialog mit Wirtschaftsverbänden in der Bedeutungslosigkeit enden, wirkt angesichts Chinas Industriepolitik wie aus der Zeit gerissen. Förderungsinstrumente und Akteure sind an ihre Grenzen gekommen.
  • Es ist erstaunlich, dass trotz der wachsenden politischen und wirtschaftlichen Bedeutung Chinas im deutschen Journalismus viele zentrale Prozesse im wirtschaftspolitischen Kontext kaum aufgegriffen bzw nur als Bedrohung dargestellt werden. Für eine ausgewogene Auseinandersetzung wäre es hilfreich, die vielen Details sichtbar zu machen und in eine Sprache zu übersetzen, die nicht nur Experten verständlich  ist.

Ausgewählte Quellen:

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