Tunesien im Covid-Winter

Tunesien:

Vom Arabischen Frühling in den Covid-Winter

Von Helmut Reisen

Zum zehnten Jahrestag, der Arabellion liefern sich in Tunesien junge Menschen Straßenschlachten mit der Polizei. Die Menschen sind wütend und enttäuscht über die desolate Lage des Landes. Zehn Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings, der im Winter 2010/11 durch die Selbstverbrennung eines Obsthändlers in der tunesischen Provinz, ausgelöst wurde, ist Tunesien wieder täglich in den Schlagzeilen. Die Nostalgie nach dem Regime Ben Alis greift um sich. „Die an der Macht sind jetzt andere, das System ist geblieben“. „Was nützt mir Pressefreiheit, wenn ich keine Arbeit habe?“, wird geklagt[1].

Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) hat die Mittel für Tunesien im letzten Jahrzehnt deutlich erhöht. Herzstück des deutschen Engagements ist die Reformpartnerschaft mit Tunesien im Rahmen des Marshallplans mit Afrika. Sie wurde 2017 als bilateraler Beitrag zur G20-Initiative Compact with Africa geschlossen. Laut BMZ ist Tunesien ein politischer Hoffnungsträger in Nordafrika[2] und nach einer langen Phase der Diktatur auf dem Weg, sich friedlich in einen Rechtsstaat umzuwandeln. Trotz politischer und sozialer Spannungen gilt die demokratische Entwicklung im Land als vorbildhaft, so das BMZ auf der offiziellen Tunesien-Seite. „Die Zivilgesellschaften in der arabischen Welt schauen mit einigem Neid auf Tunesien.“[3] Geehrt wurden der Gewerkschaftsbund, der Arbeitgeberverband, die Menschenrechtsliga und die Anwaltskammer mit dem Friedensnobelpreis im Jahr 2015. Kurz: Tunesien ist ein Geberdarling.

Zwar loben neue Analysen[4] Tunesiens vergleichsweise guten Social Contract, sein inklusives Entwicklungsmodell. Doch Zweifel sind erlaubt, ob dies die Tunesier vor Ort auch so sehen. Gewaltsame Ausschreitungen zwischen Demonstranten und der Polizei, Plünderungen von Supermärkten und Hunderte von Verhaftungen prägen derzeit die tunesischen Provinzen und Städte.[5]

Besonders das nahe Italien spürt die unverminderte Migrationswelle aus Tunesien. In Tunesien wird die illegale Emigration nach Europa, typischerweise mit dem Boot, gemeinhin als Harqa (arabisch für das Verbrennen der Grenze) bezeichnet. Harqa ist eine Ausstiegsstrategie derjenigen, die zu Hause eine starke Marginalisierung erfahren. Tunesien ist zwar auch Transitland für Migranten aus Subsahara-Afrika, aber in erster Linie Herkunftsland. Laut Migrationdataportal liegt Tunesiens Wanderungsverlust bei 170000 (Immigration – Emigration) für den gesamten Zeitraum 2011-20. Fast sieben der tunesischen Bevölkerung (insgesamt knapp 12 Millionen) leben im Ausland. Die tunesische Diaspora stützte 2020 die notorisch defizitäre Leistungsbilanz mit privaten Rücküberweisungen in Höhe von 5% des Volkseinkommens (BSP).

Laut IMF hat sich seit dem Arabischen Frühling der Außenwert des Dinars zum Euro halbiert; auch die Devisenreserven haben sich im letzten Jahrzehnt halbiert[6]. Eine Vielzahl von Problemen plagt Tunesien auch nach dem Arabischen Frühling. Einige prominente Beispiele sind die Stagnation des landesweiten Lebensstandards, die allgegenwärtige Korruption und Unterbeschäftigung.

Natürlich hat die Covid-Pandemie Tunesien besonders getroffen, da Beschäftigung und Deviseneinnahmen stark vom Tourismus abhängen. Aber laut OECD-Analyse[7] haben sich die Direktinvestoren seit dem Arabischen Frühling stark zurückgehalten, sodass das Land sich zu wenig von der Abhängigkeit vom Tourismus durch neue Arbeitsplätze wegdiverzifizieren konnte. Formale Beschäftigung hat sich zu wenig entwickelt, um die Jugend einzubinden. Die verhältnismäßig gute Ausbildung der jungen Tunesier impliziert auch Friktionen beim Arbeitsangebot: welche Arbeitsplätze in der industriellen Fertigung werden überhaupt angenommen? Saubere Büroberufe (nicht Jobs in der industriellen Fertigung) sind das Ziel der formell gut ausgebildeten Jugend.

Ratschläge kommen leicht von der Tribüne in Washington, Paris oder Berlin[8]. Man kennt sie bis zum Abwinken:

  • arbeitsintensive Industrien fördern, am besten durch attraktive Standortbedingungen für ausländische Direktinvestitionen;
  • Subventionen für fossile Energieträger kürzen oder streichen;
  • den Staatshaushalt konsolidieren durch Kürzung des öffentlichen Konsums.

Allerdings scheinen der fiskalische Spielraum der Regierung und die Geduld der Bevölkerung ausgereizt. Die Kürzung des öffentlichen Konsums, zur Hälfte Beamtengehälter, würde die auch Beamten gegen die Regierung aufbringen; das geht nur durch deren Entlassung oder Kürzung ihrer Einkommen. Höhere Energiepreise treffen die Provinz und den ärmeren Teil der Bevölkerung. Die ausländischen Direktinvestoren ziehen trotz deutlich niedrigeren politischen Gouvernanz-Noten den Standort Ägypten vor, wo der Militärkomplex die Industriepolitik bestimmt und für die Sicherheit von Direktinvestitionen bürgt[9]. Ist die junge Bevölkerung Tunesiens zu nah an Europa und zu gut ausgebildet, als das dort das asiatische Modell der Transformation durch arbeitsintensive Industrien wirklich eine Chance hätte? So jedenfalls hört man aus Expertenkreisen vor Ort.

Kein Zweifel, im Prinzip verfügt Tunesien über Trümpfe, mit recht guter Einbindung in globale Wertschöpfungsketten: seine geografische Lage an der Grenze zwischen Europa und Afrika, langjährige Investitionen in die Bildung, Spezialisierung auf Zukunftsnischen, darunter der Pharma- oder Informationstechnologiebereich. Tunesiens Attraktivität leidet jedoch unter

  • den zahlreichen, oft schwerfälligen Vorschriften und Verwaltungsverfahren,
  • den Vorschriften für ausländische Investitionen, die restriktiver sind als in Ägypten und Marokko, und
  • den Verzögerungen beim Grenzübertritt (Zoll und Transportlogistik), die oft länger sind als anderswo.
  • Einige Investoren beklagten auch eine Qualifikationslücke, obwohl 28 Prozent der Hochschulabsolventen arbeitslos sind.[10].

Eine Bemerkung des Nahostexperten Torelli vom römischen Politikinstitut ISPI (Istituto per gli studi di politica internazionale) aus dem Jahre 2017 klingt heute als Mahnung[11], auch für das BMZ: „Einer der Fehler der letzten Jahre war die Tendenz der EU, das Loblied auf die tunesische Demokratisierung zu singen. Zwar hat das Land ein gutes Maß an formaler Demokratie erreicht, aber es gibt noch viele kritische Probleme im Zusammenhang mit der Wirtschaft und der politischen Instabilität.“ Insofern besteht Anlass für Kritik an der Geberrhetorik im Allgemeinen und an der BMZ-Rhetorik (mit Fokus auf Rechtsstaat und Menschenrechte) im Besonderen. Diese Rhetorik hat in DAC-Kreisen lange Tradition, ohne irgendeine Besserung der armen Bevölkerung bei den Grundbedürfnissen zu bewirken. Hinreichend für nachhaltige Transformation ist sie nicht.


[1] Anelise Borge (2020), „Zehn Jahre Arabischer Frühling. War es das?“, euronews, 17. Dezember.

[2] BMZ (2021), Tunesien: Land im Umbruch, Berlin.

[3] Isabelle Werenfells (2020), im SPIEGEL, “So steht Tunesien zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling da“, 17. Dezember.

[4] Amirah El-Haddad (2020), „Redefining the social contract in the wake of the Arab Spring: The experiences of Egypt, Morocco and Tunisia”, World Development , Vol. 127, March 2020, 104774.

[5] Sofian Philip Naceur (2021), “Gekippte Stimmung in Tunesien“, Cairo/Tunis/Berlin: 20. Januar.

[6] IMF (2019), Tunisia, IMF Country Report No. 19/223, Juli.

[7] OECD (2020), Tunisia, in OECD Economic Outlook, Volume 2020 Issue 2, OECD Publishing, Paris.

[8] Vgl. https://www.compactwithafrica.org/content/compactwithafrica/home/compact-countries/tunisia.html; IMF (2019), op.cit.; und OECD (2020), op.cit.

[9] Amirah El-Haddad (2020), op.cit.

[10] Isabelle Joumard (2020), “Les pays émergents ne sont pas tous logés à la même enseigne face à la crise Covid et à la réorganisation des chaines de valeur mondiales”, Leaders, Tunis, 17. Mai.

[11] Stefano Torelli (2017), „Escaping from Tunisia“, Brüssel: European Council on Foreign Relation, Commentary #7236, 10. November.

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